Deutscher Bahnkunden-Verband und IGEB Fernverkehr

Der grenzüberschreitende Eisenbahnverkehr in Europa ist angesichts der mehr als zwanzig verschiedenen nationalen Zugsicherungssysteme, im Gegensatz zum Verkehrsträger Straße, bislang nur mit erheblichem technischen Aufwand möglich. Die Fahrzeuge müssen dafür mit einer Vielzahl technischer Komponenten ausgerüstet sein, wobei sich Zulassungsprozesse von Land zu Land unterscheiden. Mit dem European Train Control System (ETCS) soll die Vielzahl der länderspezifischen Zugsicherungssysteme nach und nach aber abgelöst werden und ein einheitlicher europäischer Standard geschaffen werden. Perspektivisch wird dadurch ein grenzüberschreitender Schienenverkehr ohne technische Barrieren möglich. Dies setzt jedoch zwingend voraus, dass bei Ausrüstung mit dem ETCS auch tatsächlich nur noch ein Standard ohne nationale Sonderlösungen realisiert wird. Für die europaweite Einführung des ETCS wurden dazu seitens der EU entsprechende Vorgaben und Richtlinien erlassen, so beispielsweise die Interoperabilitätsrichtlinie 2016/797, welche den Einsatz von ETCS auf dem transeuropäischen Eisenbahnnetz regelt. Die nachgeordnete Technische Spezifikation für Interoperabilität (TSI) „Zugsteuerung, Zugsicherung und Signalgebung“ beschreibt das Zugbeeinflussungssystem ETCS. Die TSI verpflichtet u. a. auch, bei Neu- und großen Umbaumaßnahmen an der Schieneninfrastruktur das neue System einzusetzen.

Das Zugsicherungssystem ETCS ist je nach gewähltem Ausbaustandard in folgende Leistungsstufen („Levels“) aufgeteilt:

ETCS Level 1 LS (Limited Supervision = signalgeführt)

Der ETCS-Level 1 LS ist mit der heute verwendeten Punktförmigen Zugbeeinflussung (PZB) vergleichbar. Auf einer Strecke mit diesem ETCS-Level muss der Triebfahrzeugführer die ortsfesten Signale beachten, d. h. er fährt signalgeführt. Die vom ETCS benötigten Informationen für die Fahrerlaubnis werden dabei von den Signalen in eine Lineside Electronic Unit (LEU / streckenseitige elektronische Einheit) eingespeist und mittels Balisen, die im Gleis installiert sind, an das ETCS-Fahrzeuggerät übermittelt. Das Fahrzeuggerät überwacht kontinuierlich die Geschwindigkeit. Ähnlich wie bei Strecken, die ausschließlich mit PZB ausgerüstet sind, ist der ETCS-Level 1 LS nur für Geschwindigkeiten bis zu 160 km/h zugelassen.

ETCS Level 2

Der ETCS-Level 2 ist vergleichbar mit der heutigen Linienzugbeeinflussung (LZB). Bei diesem System wird die Geschwindigkeit eines Triebfahrzeugs auf der gesamten Strecke kontinuierlich überwacht. Alle für die jeweilige Zugfahrt relevanten Daten der Strecke werden per GSM-R (Global System for Mobile Communications – Rail) übertragen. Der ETCS-Level 2 muss damit auf Strecken zur Anwendung kommen, auf denen schneller als 160 km/h gefahren werden soll. Auf Außensignale kann dabei verzichtet werden, so wie es auf der Neubaustrecke Halle (Saale) bzw. Leipzig – Erfurt – Ebensfeld bereits auch realisiert wurde. Sofern auf die Aufstellung ortsfester Signale verzichtet wird, ergeben sich geringere Investitions- und Unterhaltungskosten. Wesentlicher Nachteil dieser Lösung: Es besteht keine Rückfallebene im Störungsfall mehr durch die konventionelle Signaltechnik.

Der ETCS-Level 2 kann dabei so konfiguriert werden, dass sich durch Blockverdichtung eine höhere Leistungsfähigkeit einer Strecke im Vergleich zur Außensignalisierung mit PZB bzw. ETCS-Level 1 LS ergibt. Diese Blockverdichtung lässt sich dabei durch das ETCS wesentlich einfacher und kostengünstiger realisieren als mit der konventionellen Technik.

Entsprechend der ETCS-Strategie der DB Netz AG sollen die Strecken vorzugsweise mit dem ETCS-Level 2 ausgerüstet werden.

ETCS Level 3

Der ETCS Level 3 befindet sich derzeit noch in der Entwicklung und funktioniert analog dem Level 2. Jedoch kann mit diesem System eine spürbare Erhöhung der Leistungsfähigkeit der bestehenden Infrastruktur erreicht werden, da die Einteilung der Strecke in feste Blockabstände entfällt. Die Züge verkehren hierbei durch, abhängig vom jeweils notwendigen Bremsabstand, sich bewegende Blockabschnitte („Moving Block“). Speziell im Hinblick auf die verkehrspolitische Zielsetzung der Verlagerung von Personen- und Güterverkehren von der Straße auf die Schiene können auf diese Weise vorhandene Kapazitätsreserven der bestehenden Infrastruktur genutzt werden.

Ersatz der Linienzugbeeinflussung (LZB) wird notwendig

Die Linienzugbeeinflussung der Bauform „Lorenz“ (LZB L72) ist speziell auf Strecken der Deutschen Bahn, die mit höheren Geschwindigkeiten als 160 km/h befahren werden, mittlerweile seit 1974 (Beginn der Betriebserprobung) im Einsatz. Beide Entwicklungsstufen der LZB (LZB L72 und LZB L72 CE) werden inzwischen allerdings nicht mehr weiterentwickelt. Das System wurde von der Industrie bereits abgekündigt, so dass ein Ersatz bis etwa 2030 durch ETCS Level 2 notwendig wird. Wartung bzw. Ersatzteile für LZB-Ausrüstungen werden nur noch bis zu diesem Zeitpunkt verfügbar sein.

Ausrüstung des Schienennetzes mit ETCS verpflichtend

Mit dem European Deployment Plan (EDP) und der Durchführungsverordnung (EU) 2017/6 bestehen bis 2023 auch für das Transitland Deutschland Ausrüstungsverpflichtungen von definierten Strecken mit dem ETCS, verbunden mit konkreten Terminen der Bereitstellung. Dabei wird das ETCS als zusätzliches System installiert. Finanziert wird dies über eine ETCS-Finanzierungsvereinbarung mit dem Bund in Höhe von 598 Mio. EURO. Mit der vorerst weiterhin bestehenden konventionellen Zugsicherungstechnik kann und muss sichergestellt werden, dass die Leistungsfähigkeit der Strecken erhalten bleibt, da selbstverständlich auch weiterhin nicht mit ETCS-Bordgeräten ausgerüstete Triebfahrzeuge zum Einsatz kommen.

Folgende ETCS-Projekte sollen in 2020 in Betrieb genommen werden; zum Teil handelt es sich dabei um Grenzanschlussstrecken:

  • Ausbaustrecke (ABS) Berlin – Dresden 86 km
  • Ausbaustrecke (ABS) Stelle – Lüneburg (Dreigleisigkeit) 22 km
  • Ausbaustrecke Belgien – Aachen West Güterbahnhof 8 km
  • Dänemark – Flensburg 24 km
  • TEN-T-Korridor Rhein-Alpen, Oberhausen – Basel (berücksichtigt ist hierbei die ETCS-Ausrüstung u. a. der linken und rechten Rheinstrecke, aber auch von Anbindungsstrecken zu Terminals des Kombinierten Verkehrs, wie z. B. in Duisburg): 840 km
  • mit ETCS Level 1, Lückenschluss Paris-Ostfrankreich-Südwestdeutschland (POS Nord) 11 km
  • Polen – Frankfurt (Oder) – Erkner 68 km
  • Österreich – Passau 3 km
  • Tschechien – Schirnding 3 km

Bereits seit ihrer Fertigstellung im Jahr 2015 ist die Neubaustrecke Halle (Saale) bzw. Leipzig – Erfurt mit dem ETCS-Level 2 ausgerüstet, im Jahr 2017 folgte der Neubauabschnitt Erfurt – Ebensfeld (jeweils ohne konventionelle Signalisierung).

Folgende ETCS-Projekte sollen bis 2023 realisiert werden:

  • Ausbaustrecke Knappenrode – Horka (Inbetriebnahme vsl. 2022) 52 km
  • Nürnberg – Ingolstadt – München (Inbetriebnahme vsl. 2021) 107 km
  • Belgien – Aachen Hauptbahnhof (Inbetriebnahme vsl. 022) 13 km
  • TEN-T-Korridor Rhein-Alpen mit ETCS-Level 2 (Inbetriebnahme vsl. 2022) 394 km
  • Rostock – Berlin (Inbetriebnahme vsl. 2022) 190 km
  • Lückenschluss VDE-Projekt 8/VDE-Projekt 9 (Inbetriebnahme vsl. 2022) 55 km
  • Niederlande – Viersen – Krefeld/Köln (Inbetriebnahme vsl. 2022) 119 km
  • Projekt Paris – Ostfrankreich – Südwestdeutschland (POS Nord) / Frankreich – Limburgerhof (Inbetriebnahme vsl. 2021) 126 km
  • Neubaustrecke (NBS) Wendlingen – Ulm (Inbetriebnahme vsl. 2022) 60 km
  • VDE-Projekt 8.3 Halle (Saale) – Bitterfeld (Inbetriebnahme vsl. 2021) 23 km
  • VDE-Projekt 8.3 Leipzig – Berlin (Inbetriebnahme vsl. 2021) 149 km
  • VDE-Projekt 9 Dresden – Coswig (Inbetriebnahme 2021) 14 km

Machbarkeitsstudie zum flächendeckenden Roll-Out von ETCS liegt vor

Für die netzweite Einführung von ETCS (bzw. damit einhergehend der Umrüstung auf digitale Stellwerke) wurde seitens des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) im Juli 2017 eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben. Diese wurde vom Beratungsunternehmen McKinsey & Company erstellt. Die Studie wurde Ende 2018 abgeschlossen und kam im Ergebnis zu einem positiven Ergebnis bezüglich des Flächenrollouts des ETCS. Die bundesweite Ausrüstung ist entsprechend der Studie bis zum Jahr 2040 vorgesehen und erfordert ein Investitionsvolumen von 28 Mrd. EURO. Für den Start des Flächenrollouts hat der Bund erste Finanzmittel im Haushalt 2020 eingestellt. Das sogenannte „Starterpaket“ umfasst (unabhängig von den oben genannten Strecken) die folgenden ETCS-Projekte:

  • Schnellfahrstrecke Köln – Rhein/Main,
  • TEN-Korridor Skandinavien – Mittelmeer (Abschnitte Maschen – Magdeburg – Halle (Saale), Nürnberg – Donauwörth – München sowie München – Rosenheim – Kiefersfelden/Freilassing),
  • Digitalisierung Knoten Stuttgart.

ETCS-Nachrüstung der Fahrzeuge mit ungelösten Problemen

Bedingt durch die ausschließliche Ausrüstung von Neubaustrecken mit ETCS und der perspektivisch zu erwartenden Abschaltung bisheriger Zugsicherungssysteme auch auf Bestandsstrecken müssen praktisch alle auf der Schieneninfrastruktur verkehrenden Fahrzeuge dementsprechend mit ETCS-Bordgeräten (ETCS On-board Units) nachgerüstet werden.

Neue Fahrzeuge müssen, sofern sie nach dem 01. Januar 2012 in Auftrag gegeben oder nach dem 01. Januar 2015 in Betrieb genommen wurden, bereits mit ETCS ausgerüstet sein. Ausgenommen sind jedoch Neufahrzeuge, die z. B. ausschließlich für den innerstaatlichen Verkehr bestimmt sind. Die ETCS-Ausrüstungsverpflichtung für Fahrzeuge, die im Hochgeschwindigkeitsnetz verkehren, ist entsprechend den Vorgaben der TSI ZZS ebenfalls verpflichtend. Aber selbst Neufahrzeuge müssen während der Umstellungsphase zusätzlich auch mit konventioneller Sicherungstechnik (in Deutschland PZB, ggf. auch LZB) ausgerüstet sein, um das Netz durchgängig befahren zu können. Dies verursacht erhebliche Kosten.

Besonders für den Schienengüterverkehr stellt die ETCS-Umrüstung eine besondere Herausforderung dar. Viele Triebfahrzeuge werden bundesweit beispielsweise für Ad-hoc-Verkehre eingesetzt; der Kostendruck ist angesichts der seitens der Verkehrspolitik bis zum heutigen Tag nicht gelösten Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten des Verkehrsträgers Schiene extrem hoch. Die Nachrüstung nur eines Triebfahrzeugs mit dem ETCS ist aber mit hohen Kosten verbunden. Die Machbarkeitsstudie von McKinsey veranschlagt für rund 9.000 umzurüstende Fahrzeuge in Deutschland einen Investitionsbedarf von rund 4,0 Mrd. EURO.

Finanzierungsprogramme dürfen sich deshalb nicht ausschließlich auf die ETCS-Ausrüstung der Schieneninfrastruktur beschränken, sondern müssen gleichberechtigt die entsprechende Fahrzeugaus- bzw. nachrüstung mit ETCS-Bordgeräten berücksichtigen. Da es sich bei der ETCS-Einführung um ein europäisches Projekt handelt, sollte ein entsprechendes Förderprogramm dafür zweckmäßigerweise auch auf EU-Ebene angesiedelt werden und nicht ausschließlich auf nationaler Ebene.

ETCS ist kein „Allheilmittel“

Das Vorhaben, das Eisenbahnnetz mit dem ETCS auszurüsten, bedeutet sicherlich eine grundlegende Modernisierung des Zugsicherungssystems in Deutschland. Unabdingbar sind dafür allerdings zuverlässige, störungsfrei arbeitende Komponenten. Aber: Durch die in den vergangenen Jahren vielfach deutlich zurückgebaute Schieneninfrastruktur (Abbau von Überholgleisen, Abbau von Weichenverbindungen) ist die Flexibilität der Betriebsdurchführung mittlerweile vielfach deutlich eingeschränkt worden. Die hieraus resultierenden Probleme bezüglich der Durchlassfähigkeit von Strecken lassen sich nicht ausschließlich mit der Einführung des ETCS beseitigen, sondern nur durch Korrektur der bisherigen Strategie der stetigen „Verschlankung“ der Infrastruktur. Die Einführung vom ETCS ist daher keinesfalls ein „Allheilmittel“! Speziell im Hinblick auf die Umsetzung des Deutschlandtakts, verbunden mit den im Zielfahrplan enthaltenen Angebotsausweitungen, kommt dem beschleunigten Ausbau u.a. der Bahnknoten erhebliche Bedeutung zu.

In diesem Zusammenhang ist speziell die Priorisierung der ETCS-Ausrüstung des Bahnknotens Stuttgart letztlich ein Rettungsversuch, um u. a. eine Restkapazität des hoffnungslos unterdimensionierten achtgleisigen neuen Tiefbahnhofs Stuttgart Hauptbahnhof zu gewinnen. Richtig wäre in vorliegendem Fall endlich das Eingeständnis einer Fehlplanung und der Erhalt zumindest eines Teils der Bahnsteige bzw. Gleise des heutigen Kopfbahnhofs. Damit kann auch im Fall von Störungen und nicht vermeidbaren Instandsetzungsmaßnahmen der Infrastruktur noch eine ausreichende Kapazität gewährleistet werden.

Link zur Veröffentlichung der DB AG

Zurück zur Übersicht

Unterstützen Sie uns mit einer Spende!

Unterstützen Sie uns. Werden Sie Mitglied!